Twitch Goldfisch Amouranth?
Es ist fast egal, zu welcher Tages- oder Nachtzeit man die Twitch Startseite besucht: Fast immer ist Amouranth, die allen bekannte aber ebenso von allen totgeschwiegene Streamerin online und zeigt sich im Schnitt etwa 10K Zuschauern. Aber sie spielt nix, sie redet auch nicht viel und tut auch sonst seltsam wenig, dass man in eine Kategorie stecken kann. Trotzdem ist Amouranth eine der bekanntesten und bestverdienensten unter den Twitchern. Also, was steckt dahinter?
Das „Restaurant mit dem Aquarium“
Eigentlich hat Twitch ja schon ein Maskottchen. Diese „lustigen Glotzaugen“ in einer Sprechblase mit violettem Rand. Kennt man. Aber etwas, das immer da ist, worüber man nicht viel weiß, außer, dass es für einen Dienst steht… das hat schon etwas von einem Maskottchen. Nun kann man nicht sagen, dass Amouranth „für das steht“, was die meisten oder sehr viele auf Twitch tun – denn das ist noch immer Gaming – trotzdem wird sie jedem Twitch Besucher unweigerlich zum Begleiter.
Insofern hat sie etwas von einem Vogel- oder Papageienkäfig, der zum Beispiel in einem altmodischen Hotel oder so aufgestellt ist. Oder das Aquarium in einem Restaurant. Die Besucher kommen daran vorbei, gucken kurz interessiert, klopfen an die Gitterstäbe oder die Scheibe und gehen dann aber weiter ihrem Vorhaben nach. Aber diese Tiere am Eingang machen einen Ort interessant und er bleibt im Gedächtnis. Die Kinder quengeln, dass man gerade dort wieder hingehen soll „wo die Fische waren“. Twitch kids eben.
Das ist wohl auch der Grund, warum Twitch sich mit Amouranth und ihr ähnlichen Streamern so schwer tut. Es ist erfolgreich. Es bringt Leute zurück und vor den Bildschirm. Und es ist aber auch, nun ja, irgendwie falsch. Zumindest fühlt es sich so an. Oder? Sind denn die genannten Tiere im Käfig okay? Mh. Da gibt es geteilte Meinungen. Aber diese Girls… mit ihren ASMR Streams, Hot Tubs & Beaches… Hat irgendwie ein pornöses Geschmäckle… denken sich wohl nicht nur die Plattform-Betreiber. Und wenn sie, diese hilfreichen Narren, es ein bisschen doll treiben, wie Amouranth hin und wieder mal, dann wird sie für ein paar Tage weggebannt. „Na na! Böse Mietzekatze!“ Hier sollen ja nicht die Mäuse auf den Tischen tanzen! Gell? Dann gibt der Dompteur kurz die Peitsche.
Twitch als Guckkasten
Aus der Perspektive der Streamer, die die Plattform für Game-Streams nutzen, mag das wurscht sein. Da reagiert man mit einem Schulterzucken: „Yep, da gibt’s diesen anderen content. Egal, jetzt spielen wir dieses oder jenes, Leute.“ Gamer haben sowiso schon alles gesehen. Who cares about ASMR, Fleischbeschau oder sonstwas. Hier läuft eSport!
Ein interessanter Denkanstoß aber ist die Sache mit Amouranth für die Streamer, die nicht ganz so viel Gaming auf Twitch zeigen: die IRL Streamer, die Just Chatting Streamer. Alle die, die wenig spielen, dafür mehr „Talkradio“ mit Bild machen – oder die, die einfach fast nichts machen, aber auch mit Bild. Ist Twitch ein Guckkasten? Ein Panoptikum? Eine Art Zoo, in dem sich hinter jeder Scheibe etwas anderes abspielt, manchmal flauschig und nett, manchmal bizarr? Oder ist es umgekehrt: ist der Zoo vor dem Bildschirm und die Streamer schauen quasi hinein, halten den Spiegel vor? Das gälte auch für all die anderen Video-Plattformen, live oder on-Demand, Twitch oder YouTube, Vimeo und Co.
Twitch, Amouranth und Tweety
Während bei MontanaBlack die Goldfische noch im Aquarium hinter ihm sind, ist das bei Amouranth anders. Amouranth ist der sprichwörtliche Twitch Goldfisch! Die kupfer-goldenen Haare dazu hat sie ja schon. Da war der Weg nicht weit: ein Happen „eye-candy“ für den vorbeiflanierenden Nerd. Sogar geschlafen wird on-stream. Ansonsten darf sie ein wenig schaukeln und sich herrichten – hängt dabei aber letzlich doch immer „am Tropf“ des „Käfigbesitzers“. Und es ist schon irgendwie ein Käfig. Bisweilen meint der geneigte Zuschauer einen Hauch von Langeweile zu erahnen. Oder eine intellektuelle Abwesenheit – der Geist entflieht den Mauern.
Denn schließlich war Amouranth, mit bürgerlichem Namen Kaitlyn Michelle Siragusa (ihre Homepage), eigentlich mal Cosplayer. Ein bisschen Fan, eine gehörige Portion Nerd und eine Affinität zum Basteln – fertig ist der Cosplay-Superfan, der sich in seiner Freizeit in Comicfiguren, Anime-Serien-Helden oder Filmfiguren verwandelt. Zu verschämt, um ihre bisweilen knappen Verkleidungen dann im Netz zu posten war sie noch nie, aber dass sich das Ganze so auswachsen würde, hätte sie wohl selbst nicht erwartet. Warum gerade sie so in den Vordergrund geraten ist, weiß wohl niemand genau – aber warum sie dabei bleibt, das schon eher.
Grund für diese Wendung ist etwas, dass uns auch zur erfreulichen Pointe für Amouranth bringt. Denn Twitch ist keine Wohltätigkeitsveranstaltung. Heute dem Amazon-Konzern zugehörig wollte man schon zu Justin.TV Zeiten aus der Plattform ein Geschäft machen – und dieser Vorsatz nimmt in den letzten Jahren Fahrt auf. Damit einher geht das Einflechten von Monetarisierungsmodellen in das Live-Streaming. Da gibt es Subs, Bits, Donations und Patreon pages. Jede Menge Möglichkeiten, ähnlich wie bei einem Strassenkünstler, der fleißigen Streamerin etwas in die Sammelbüchse zu werfen. Und genau das macht für Amouranth die Existenz im Goldenen Käfig so auskömmlich. Spätestens seit dem Twitch Leak, in dem Verdienst-Daten an die Öffentlichkeit gelangten, wissen wir: Amouranth verdient Millionen, allein auf Twitch. Sie ist eine der Millionäre der Plattform. Und gemäß der üblichen Twitcher und YouTuber Mischkalkulation hat sie noch eine Reihe weiterer Einnahmequellen.
Mal sehen, wer den Platz im „Aquarium am Eingang“ dieses Restaurants erben wird, wenn Amouranth genug hat, wieder Kaitlyn wird und Twitch und dem ganzen Zauber im Netz den Rücken kehrt.