Gaming Chairs. Warum nur sitzen alle auf Autosesseln?
Der Computernerd von früher saß auf irgendetwas: einem Hocker, einem Klappstuhl, einem Bürostuhl. Drehbar oder nicht – egal. Der Nerd ist ein Vielsitzer, kein Anspruchssitzer. Worauf man sich den Rücken beim Sitzen ruinierte, war immer egal, schon gar keine Stilfrage. Streamer und Gamer der Jetzt-Generation beantworten die Frage aber ganz anders: ein Autositz muss es sein, ein dynamischer Sessel, die Cockpit-Bestuhlung der Rennfahrer, der Piloten und Astronauten. Ein Gaming Stuhl oder englisch Gaming Chair. Das „im Bildschirm“ muss sich „vor dem Bildschirm“ widerspiegeln. Der Gamer und Streamer von Welt wählt den Autositz.
Wenn man etwas recherchiert, wie das alles mal anfing, dann kann man in der eigenen Erinnerung anfangen. Denn wo waren einem diese Autositze zuerst aufgefallen? Genau: beim Fußball. Wie so viele Trends, ob bei Haarschnitten, Tattoos, Brillen oder Taschen – der Fußball-Profi gibt den Ton an, legt vor und der Fan zieht nach. Was der Ballsportler macht wird nur wenig später Mainstream. Fertig. So ist das eben.
Wo kommen die Gaming Stühle her? Vom Fußball.
Wer zumindest hin und wieder in den späten 1990er Jahren Bundesliga-Fußball geschaut hat, dem ist damals aufgefallen, dass auf einmal die „Bankdrücker“ auf Autosesseln saßen. Hä? Fahren die wohin? Was soll das? Ah, okay, ein Placement. Denn ebenso auffällig wie die Autositze war der Schriftzug auf der Rückenlehne: „RECARO“. Macht ja Sinn: man platziert sich als Konzernmarke im Umfeld des Sports. Und statt einfach Bandenwerbung zu kaufen, macht man etwas, dass für die Marke typisch ist – man liefert einen Sitz. War irgendwie clever.
Einer, dem das auch aufgefallen ist, ist der Journalist David Tracy. Er hat für einen Artikel Recaro kontaktiert und gesagt bekommen, dass alles mit dem Teammanager des 1. FC Kaiserslautern begonnen hat. Karl-Heinz „Kalli“ Feldkamp hatte Rückenprobleme und er sprach darüber mit Ulrich Putsch aus dem Vorstand des Vereins. Putsch ist Gesellschafter der Recaro Unternehmensgruppe, zählte 1 und 1 zusammen und schlug vor, dass er vielleicht besser sitzen müsse, und zwar auf einem ergonomischen Autositz. Das wäre sicher seiner Gesundheit zuträglicher, als auf den bis dahin im Stadien montierten, kreuz-unbequemenen Plastik-Halbschalen-Sitzen.
Das ist der Gründungsmythos des Gaming Chairs. Offenbar ist diese Legende aber so nebulös, dass sogar Recaro selbst die Geschichte etwas anders erzählt. Nach der offiziellen Firmenlegende begann zwar auch alles beim 1. FCK und mit Ulrich Putsch – aber der Mann mit den Rückenproblemen war nicht Kalli Feldkamp, der Manager, sondern Friedel Rausch, der Trainer. Wahr ist aber offenbar die Sache mit der Idee, dass ein guter Sessel dem Rücken zuträglich sein könnte und man daher den Stadionstuhl gegen einen Autosessel austauschte. Marketing Gold.
Ob sich das Ding von da an verselbstständigt hat oder ob ein wacher Marketing-Mensch da etwas mitgeholfen hat – keine Ahnung. Die Geschichte geht dann auf jeden Fall immer so weiter, dass angeblich die Spieler den Sessel so cool fanden, dass sie auch einen wollten. Genau! Man will ja als Bankdrücker beim Mitfiebern nicht aus der Kurve getragen werden! Wenn man schon untätig herum sitzt, dann soll das wenigstens dynamisch aussehen! So richtig! Mit hoher Rückenlehne und Seitenhalt. Und wertig! Mit feinem Lederbezug, sorgsam gesteppten Nähten und Sitzheizung. Ja Sitzheizung. Denn es kann bitterkalt sein, im Stadion, im Abseits der Coaching Zone. Und mit Anschnallgurt. Ja? Ja, denn einer der ersten Sitze war vermutlich ein Recaro Speed Nachrüstsitz – und der hat tatsächlich unter der Kopfstütze einen Durchbruch für Anschnallgurte. Für den Fall also, dass ein Wutausbruch einen Spieler enthemmt aus seinem Sessel fahren ließe, kann man sich anschnallen. Nach dem Motto „you better restrain me!“, „Haltet mich bloooß zurück…!“
Der Fußball Autositz wird Gaming Chair
Die späten Neunziger, die frühen 2000er Jahre. Das war auch die Zeit, in der E-Sport so langsam groß wird. früher waren noch LAN-Parties und Röhrenmonitore. Eine Partie Doom mit Freunden war da ein halber Umzug, mit kiloschwerem Zeug zum Schleppen. Was war das doch für eine Erlösung, als das ganze über das Netzwerk laufen konnte. Da konnte dann jeder Nerd und sein CRT Monitor einfach zu Hause sitzen bleiben.
Für den Heimanwender gab es da Quake und für den Konsolenspieler später Halo 2 auf der XBOX. Sowas in der Art. Richtig groß, so hallenmäßig in Stadien mit tausenden Zuschauern, haben das gefühlt die Asiaten gemacht. StarCraft, DotA, League of Legends mit Gamern die „E-Sportler“ sind, so richtig mit Trikot und Fans. Ein Hallenevent das im Fernsehen und im Netz gestreamt wird verlangt natürlich auch nach einer ansprechenden Optik. Niemand will da pickelige Kids die Maus schieben sehen. Der E-Sport hat ein wenig das gleiche Problem wie der Motorsport: „Machen die überhaupt etwas? Etwas sportliches??“
Und da griff man dann zu dem Kniff, den die Fußballer vorgemacht hatten: wenn schon nicht der Mensch, der sitzt, dynamisch ist, dann soll es wenigstens der Sitz sein! Der Autositz. Aus Jahren der Entwicklung, der Unfallforschung und des Interior-Designs war ein Objekt hervorgegangen, dass schon im Stehen – äh, Sitzen – also ohne, dass es sich bewegt – dynamisch, in Bewegung, „schnell“ aussieht. Wow. „Setzt die Nerds in so ’nen Autositz und es sieht cool aus“. Gedacht getan. Seither sitzt der E-Sportler im Rennsessel. Klar heißt das jetzt Gaming Chair.
Vom Gaming zum Streaming Stuhl
Als das Video Live-Streaming vor einigen Jahren erstmals im Mainstream aufblitzte, hieß etwas zu streamen noch game streaming. Das lag daran, dass die Firma Justin.TV aus San Francisco mit ihrer Idee YouTube eine „live“ Alternative entgegen zu setzen irgendwie versumpft war. Justin.TV hieß so, weil es maßgeblich von Justin Kan gegründet worden war. Zum Auftakt streamte er einfach sein Leben in die Welt, eine Truman Show, die Kan „life casting“ nannte. Hat irgendwie nicht verfangen. Einer seiner Mitarbeiter, Emmett Shear, schlug daher vor, das Angebot an Streams thematisch zu begrenzen – und da ein Großteil der Streams auf Justin.TV gaming streams waren und er selbst sie gern schaute, sollte es eben „Gaming“ sein. Neuer Name, tataa: Twitch war geboren.
Als Twitch 2011 „auf Sendung“ ging würde es noch viele Jahre dauern, bis Twitch zu dem Amazon-Subdivision-Riesending würde, dass es heute ist. Die App war krude, die Website auch. Aber es funktionierte und wenn man ‚rein zappte, dann waren da tatsächlich Gamer beim Spielen. Und weil Gamer schon damals selbst davon träumten auch Helden in ihrem Hobby zu werden, eiferten sie natürlich den Stars im E-Sport nach. Und auch Marketing-Schlauberger waren da wieder am Werke. Es gab Gaming Chairs zu kaufen, wie sie die Helden der E-Sport Szene in ihren Turnieren nutzten. So kam es dann, oder so ähnlich, dass wenn man Gamern bei Spielen zusah – und diese Gamer sich dabei auch noch selbst zeigten, diese Gamer auf Autositzen saßen. Wie gesagt, wenn sie sich zeigten – denn die „face cam“ hatten damals nur die ganz großen Game Nerds auf sich gerichtet. Und die ganz großen Nerds hatten natürlich auch einen E-Sportler-würdigen Sessel. Die weit hochgezogene Lehne dieser Bauart Stuhl begünstigt zudem, dass man den Stuhl in der Kamera auch sieht. Das hat der Proliferation der Gaming Chairs sicher auch nicht geschadet.
Der Gaming Stuhl ist überall
Einfach jeder Nerd, der ab da auf Twitch aktiv wurde, schaffte sich einen Gaming Chair an. Wer irgendetwas mit online Spielen, mit Gaming oder Game Streaming zu tun hatte – schaffte sich so einen Gaming Stuhl an. Einfach jeder, der sich auch nur im Ansatz trauen wollte, auf Twitch die Camera anzuschalten und „live zu gehen“ – der musste einfach ab da einen Gaming Sessel sein eigen nennen. Selbst wer überhaupt nicht mehr spielt, sondern nur noch IRL und Just Chatting streamt, braucht einen Gaming Stuhl. Der Gaming Chair ist das „essential asset“ – nach Mikrofon und Cam, auf gleicher Stufe mit Riesen-Kopfhörern, light panels oder Lavalampe – eben das „must have“ der Zeit, auf Twitch, YouTube Live und Co.
Und der „Chair“ sagt auch etwas über den eigenen Status aus, das eigene Selbstverständnis und die eigene Strahlkraft. An dieser Stelle kehren wir wieder zum Anfang zurück. Denn im Stadion sitzen nicht alle auf solch tollen Autositzen – nein – nur die Helden des Spiels, die Gladiatoren, die Kombattanten. Okay, die Auswechselspieler und Funktionäre auch. Aber eben schon die Elite des Sports – die darf ihren Allerwertesten auf einem solchen Möbel platzieren. Der König braucht seinen Thron.
In dem sehr statusbewussten Umfeld des Sportmarketings hat es wohl daher nicht lange gedauert, bis auch dieses Element zu Geld gemacht wurde. Zunächst mal wird der Autositz auch in anderen Sportarten etabliert, von Baseball bis Tennis, als der Premium Platz im Stadion. Und dann kommt er zum Fan, wie die Loge oder die teuren Sitzplätze eben davor auch. In Japan werden jetzt Autositze in den Vereinsfarben auf den Ehren- und Premiumplätzen auch für besonders gut Zahlende Zuschauer installiert. Wo ein Trend ist, ist das Geschäft nicht weit.
Die Stunde der schlauen Gaming Chair Sponsoren
Bei Otto-Normal-Verbraucher ist das natürlich auch schon angekommen. Ebenso, wie es den Sport-Autosessel für den Sportfan zu Hause schon gibt, kaufen auch immer mehr Gamer sich ihren Autositz für zu Hause. Als guter Eleve muss das so. Die kommende Generation der Gamer und Streamer meint gar, man müsse so einen Sessel haben, wie eine Art „Eintrittskarte“, als Grundausstattung. Ja was denn sonst? Gab es mal normale Schreibtischstühle?
Von den Top Live-Streamern in Deutschland sitzen gefühlt alle auf Gaming Chairs. Das Ding ist aber, dass auch vermutlich alle von diesen top Twitchern und YouTubern ihre Stühle gestellt bekommen. Da steht Maxonomic drauf, oder Noblechairs, DXRacer, Razer oder Backforce. Selbst IKEA hat da was im Angebot! Nur Recaro steht da quasi nie drauf. Ironie des Schicksals.
Und vergleichsweise teuer sind die Dinger. Fragt man einen 10-jährigen Gaming Fan, dann bekommt man vordekliniert, was man so zum Live-Streamen braucht: welches Micro, welche Tastatur und dass der Stuhl so um die 400 EUR kosten wird. Aha. „Und ergonomisch sind die“ (schwärm). Aha. Worin unterscheiden die ausladenden Autositzkopien aus China sich denn von der 50 EUR „Chefsessel-Krankheit“, die bisher in jeder Studenten-WG stand und unzählige Rückenwirbel ruiniert hat?
Sitzt du schon gut oder sitzt du nur?
Gut zu sitzen ist nämlich schon eine Frage von Design und cleverer Technik. Immer wieder hört man die groteske Übertreibung, Sitzen sei das neue Rauchen. Bestimmt ist das überzogen – aber gutes Sitzen sollte schon geleitet sein, von Sorgfalt und Erkenntnissen über Arbeits- und Sitzverhalten. Von Orthopädie, von Druckpunkten und Ergonomie an Bildschirmarbeitsplätzen.
Autositze sind für Autos. Da geht es um Seitenhalt und Sicherheit und um Gemütlichkeit auf langen Strecken. Ja, Autohersteller machen sich viele Gedanken darüber, wie gut die Insassen sitzen. Da war die Krücke, einen Autositz in ein Fußballstadion zu schrauben, nicht so schlimm. Da sitzt man ja auch nur 1-2 Stunden. Wer nur einen Hammer hat – für den ist jedes Problem ein Nagel. Und wer bei einer Firma arbeitet, die Autositze herstellt, der findet überall sitzende Menschen. Der Weisheit letzter Schluss ist das trotzdem nicht.
Der einzige Streamer, der recht prominent aus der Reihe der auf no-name Gaming Stuhl sitzenden Streamern ausschert, ist ausgerechnet der kanadische Super-Streamer xQc, Platz 5 der meistgefolgten Twitcher weltweit. Er (…und, ja, okay, Mcky) sitzt auf einem gemeinhin als sehr ergonomisch angesehenen HermanMiller Aeron.
Dieser Drehstuhl ist schon so lange auf dem Weg zum modernen Design-Klassiker, dass er schon wieder langweilig ist. Dabei glänzt er im Gegensatz zu den mit Kissen und Quatsch halbwegs „sitzbar“ gemachten Gaming Chairs mit Verstellbarkeit, Lumbalstütze, durchdachter Ergonomie, hoher Qualität und einer luftdurchlässigen Membran, auf der es sich auch nach Stunden gut sitzen lässt. Diese echten Qualitäten haben den Aeron wohl auch zu einem Darling unzähliger Webdesigner, Programmierer und Screen Worker der New Economy vor allem in den USA gemacht. „Gut Sitzen“ ist ein Auswahlkriterium bei Job Ausschreibungen im Silicon Valley – wie z.B. die Krankenversicherung oder andere „Perks“ im dortigen Arbeitsmarkt auch. Und wer sich gelegentlich Kinofilm Making-Ofs ansieht, der findet den Aeron bei Spezialeffektfirmen und in Tonstudios von London bis Los Angeles. Eine Ikone. Das Problem ist nur, dass das Ding mit gut 1500 EUR empfindlich teuer ist. Und gegen einen vor Dynamik und stehender Kraft nur so strotzenden Gaming Stuhl einfach, nun, lahm aussieht. Schon blöd, das mit dem ‚gut aussehen‘. „Wer schön sein will…“ naja.
Jetzt ist aber auch mal gut. Das war sie also, die Geschichte vom Autositz, der zum Gaming Sessel wurde. Da tut einem ja schon vom Lesen der Rücken weh! Autsch.